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¯\_(ツ)_/¯

Buchkritik: „Lieferdienst“ von Tom Hillenbrand

Berlin in nicht allzu ferner Zukunft – oder besser gesagt Bezwee, denn Alt-Berlin ist einer Neutronenbombe zum Opfer gefallen. Doch Neu-Berlin blüht dafür umso mehr, inklusive Merkelstatuen und Wohnsilos, die nach Richard David Precht benannt wurden. Diese zeitliche Aktualität disqualifiziert Lieferdienst natürlich davon, ein zeitloser Klassiker zu werden – aber vielleicht will der Roman das gar nicht.

Die meisten Kritiker – ob überbezahlte Feuilletonisten oder unbezahlte Blogger – lesen Lieferdienst als Dystopie mit konsum- und kapitalismuskritischer Stoßrichtung. Das liegt nahe: Im Zentrum der Geschichte steht der junge Arkadi, der mit seinem Hoverboard als „Bringer“ für den internationalen Lieferdienst RIO durch Neu-Berlin fliegt, um zum Beispiel frisch gedruckte Playstations auszuliefern.

Man könnte zwar denken: Hoverboards für Lieferboten – klingt doch nach Fortschritt! Doch obwohl sich Arkadi beim Treppensteigen nicht mehr den Rücken ruiniert, hat das neue System seinen Preis: Seine Konkurrenten versuchen ihn mitunter wortwörtlich vom Himmel zu holen. Denn auch sie wollen ihre frisch gedruckten Konsolen an den Kunden bringen. So kommt es vor, dass Lieferdienste auf unverkaufter Ware sitzen bleiben, für die sie keine Lizenz besitzen – also ab auf den Recyclinghof damit. Doch anstelle einer umweltfreundlichen Wiederverwertung landen diese mit den ganzen anderen Retouren auf Alt-Berlins  unterirdischen Müllbergen, wie Arkadi bald herausfindet. (Kein Spoiler: Diese „Recycling-Lüge“ ist ein halb-offenes Geheimnis und hat mit dem Twist am Ende wenig zu tun.)

Sich halt damit abfinden

Arkadi, ein abgebrochener BWL-Student und „Bringer“ beim Lieferdienst Rio, wird von vielen Kritikern als gebrochene Figur rezipiert. Doch Hillenbrand gelingt es nicht, seiner Hauptfigur eine echte Entwicklung zu verleihen. Arkadi bleibt bis zur letzten Seite ein treuer Anhänger seines Arbeitgebers, der die Work-Life-Balance dadurch regelt, dass er seine Mitarbeiter zu Mitgliedern einer Sekte formt, auf die so manches hippe Start-up neidisch wäre. Für Arkadi ist „Einfach! Geil abliefern“ mehr als ein Slogan – es ist sein Lebensmotto.

Zwar nimmt er Kritik wahr – sei es von seinem Vater, der noch im Laden einkauft, oder von seinem Freund Ufuq, der selbst einen Laden betreibt. Doch diese Kritik lässt ihn kalt, er scheint sich halt damit abgefunden zu haben. Daher wirkt sein plötzlicher Gesinnungswechsel im Finale unglaubwürdig und nicht wie eine natürliche Konsequenz der Ereignisse.

Moderne Unternehmenskultur kommt eher einem Kult nahe

Für mich ist Lieferdienst weniger eine Kritik am Kapitalismus als eine Abrechnung mit der modernen Unternehmenskultur. Hillenbrand zeigt, wie Unternehmen versuchen, ihre Mitarbeiter nicht nur zu motivieren, sondern sie durch Kulthandlungen zu vereinnahmen und sie dazu zu bringen, alles dem Wohl des Unternehmens zu opfern. Statt einer motivierenden Gemeinschaft entsteht ein Unternehmens-Kult, in dem Hierarchien wie Dogmen wirken. Das Unternehmen wird zu einer eigenen Gesellschaft – mit Kodex, Cafeteria, Sicherheitskräften und (wie Ufuq sagt) seiner eigenen Stasi. Es verwundert daher nicht, dass der Kultführer des Unternehmens gegen Ende persönlich auftritt, um Arkadi symbolisch den vergifteten Apfel zu überreichen.

Hat mir der Roman gefallen? Jein. Die Geschichte liest sich angenehm flüssig, voller Anspielungen und in sich logisch geschlossen. Doch die Hauptfigur bleibt über weite Strecken erstaunlich teilnahmslos und unbeeindruckt vom Geschehen. Erst am Ende plagen Arkadi wenigstens Einschlafprobleme.

Auswahl des Genres irritiert

Vor allem wirkt die Genre-Wahl befremdlich. Sicher, Hoverboards wie in Zurück in die Zukunft haben in einem Gegenwartsroman nichts verloren. Aber Hillenbrands Zukunftsvision erinnert eben doch stark an unsere heutige Welt – nur mit einem zerstörten Berlin. Mit diesem Ansatz hätte der Roman durchaus „postapokalyptischer“ wirken können – etwa im Stil von Mad Max, mit einem schwerbewaffneten DHL-Truck, die UPS-Konkurrenten von der Straße drängt, während ein fetter FedEx-Lkw mit montiertem Rammbock hinter ihnen herjagt. Auf der anderen Seite könnte Hillenbrands Faszination für Hoverboards ein Generationending sein, das ich gut nachvollziehen kann. Zu einem Hoverboard hätte ich damals auch nicht nein gesagt.

Alles in allem: 2 von 5 Sternen. Eine interessante Idee, deren Potenzial jedoch nicht voll ausgeschöpft wurde.

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